Ziviler Widerstand

Warum er funktionieren kann

Einleitung

Es gibt viele sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zum friedlichen zivilen Widerstand – dem strategischen Gebrauch friedlicher Mittel von Bürger:innen, die sozial, politisch oder wirtschaftlich etwas verändern wollen.

Effektiv

Der zivile Widerstand ist ein anerkanntes und effektives Mittel, um soziale und politische Veränderungen voranzutreiben. Das NAVCO Dataset, eines der bis dato größten zu diesem Thema, untersuchte Kampagnen von 1900 bis 2006 und zeigte, dass friedlicher ziviler Widerstand doppelt so erfolgreich war wie gewaltvolle Methoden, um Kampagnenziele zu erreichen.1 Gründe dafür sind unter anderem, dass Menschen leicht mobilisiert werden können, da die „moralischen, körperlichen, informellen Barrieren und Risiken für Menschen tendenziell geringer sind als bei gewaltvollen Protesten”.2 Obwohl die neusten Studien zeigen, dass es aktuell mehr zivilen Widerstand als jemals zuvor gibt, dieser aber auch weniger erfolgreich ist, ist es trotzdem so, dass ziviler Widerstand statistisch gesehen ein effektiveres Mittel bleibt.3 Die berühmtesten Beispiele sind Gandhi und Martin Luther King Jr, jedoch gibt es auch in der deutschen Geschichte immer wieder Beispiele, wie zum Beispiel der Mauerfall oder Helgoland. Bei Letzterem besetzten am 20. Dezember 1950 zwei Heidelberger Studenten, René Leudesdorff und Georg von Hatzfeld, in einer „Rettungsaktion” für zwei Nächte und einen Tag die Insel und lösten damit eine breite Bewegung zur Wiederfreigabe Helgolands an Deutschland von den Briten aus, die bis dahin die Insel unerlaubterweise als Übungsziel der Royal Air Force nutzen. Der wissenschaftliche Konsens besagt keineswegs, dass ziviler Widerstand ein Allheilmittel, noch, dass er pazifistisch oder moralisch motiviert sein muss, sondern dass er rein strategisch sinnvoll ist.4

Demokratisch

Der zivile Widerstand ist eng mit der Demokratie verbunden. Schauen wir auf die Entstehungsgeschichte vieler Demokratien, sehen wir, dass in mehr als 70 % der Fälle, in denen Diktaturen gestürzt wurden, der zivile Widerstand eine entscheidende Rolle spielte.5 Beispiele für die lange demokratische Tradition des zivilen Widerstandes sind unter anderem die Farbrevolutionen in Serbien (2000), Georgien (2003), Libanon (2005), Kirgisien (2005) und die Demokratisierung auf den Philippinen im Jahr 1986, Polen im Jahr 1988, Tschechien und Ungarn im Jahr 1989, Ukraine im Jahr 2004/2005 sowie in Nepal im Jahr 2006.6 Darüber hinaus dreht sich auch die wissenschaftliche Debatte, angeführt von Menschen wie Hannah Arendt, Henry David Thoreau und Jürgen Habermas, darum, dass bestehende Demokratien auf zivilen Widerstand angewiesen sein können, um sich selbst zu regulieren und ihre eigenen demokratischen Prinzipien zu stärken.7 Dabei ist der zivile Widerstand darauf ausgelegt, konstruktive, friedliche Spannungen aufzubauen, damit sich eine Gesellschaft mit bisher verdrängten oder unerkannten Demokratiedefiziten beschäftigt.8 Wie Robin Celikates es ausdrückte: Die Geschichte zeige, dass Demokratien immer auch anfällig für Verzerrungen und Manipulationen seien und manche Probleme nicht abschließend im Rahmen der demokratischen Institutionen gelöst werden können. Der zivile Widerstand habe dabei schon oft seine demokratiefördernde Funktion gezeigt und Bürger:innen eine Stimme verschafft, die sonst auf anderen institutionalisierten Wegen verstumme.9 Immerhin besagt der Begriff Demokratie ja selbst, dass es eine Regierungsform ist, die von den Menschen ausgeht, und dass ihre politische Aktivität in dieser Staatsform zentral sein sollte.10

Ergänzend dazu zeigt der „Movement Action Plan“ – ein Modell, das basierend auf erfolgreichen Fallstudien die verschiedenen Phasen des zivilen Widerstands zusammenfasst – die verschiedenen Phasen des Protestes auf. Dabei ist interessant, dass auch wenn Staaten demokratische Werte, wie beispielsweise Freiheit und Gleichberechtigung, verletzen, es in der Anfangsphase der Proteste, auch „normale“ oder „stille“ Zeiten genannt, üblich ist, dass die Öffentlichkeit die Handlungen der Politiker:innen trotzdem vertritt.11 Gründe dafür sind beispielsweise, dass die Demokratieverstöße nicht öffentlich behandelt werden und größtenteils unbemerkt bleiben und dass Politiker:innen ihre Arbeit so darstellen, dass sie augenscheinlich mit den Grundwerten übereinstimmen. Im Laufe der Proteste ist es jedoch wahrscheinlich, dass die sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen, die es dem Gegenüber ermöglicht haben, die Demokratiedefizite zu begehen, abgebaut werden und die Unterstützung für den zivilen Widerstand aus der Bevölkerung wächst.12 Die Anti-Atomkraft-Bewegung ist eines vieler Beispiele, die diese Dynamiken verdeutlichen: Am Anfang der Proteste nahmen schätzungsweise gerade einmal 10–15 % der Öffentlichkeit die Demokratiedefizite als ernsthaftes Problem wahr, über die Zeit der Proteste verschob sich dies auf eine Mehrheit von circa 80 %.13

Zusammenfassung

Fassen wir nun zusammen, sehen wir, dass ziviler Widerstand keineswegs ein „verzweifelter Akt“ oder „letztes Mittel“ ist, welches unkontrolliert eingesetzt wird, sondern verdeutlicht, dass es ein effektives und demokratisches Mittel ist. Ohne zivilen Widerstand fällt es schwer, sich die vielen politischen und sozialen Veränderungen der vergangenen Jahrhunderte vorzustellen.

  1. Vgl. CHENOWETH / STEPHAN: How Civil Resistance Works, 7-8; SHARP: The Politics of Nonviolent Action, 4. ↩︎
  2. Vgl. Ebd. ↩︎
  3. Vgl. CHENOWETH: Civil Resistance. What everybody needs to know. ↩︎
  4. Vgl. ROBERTS/ GARTON ASH, Civil Resistance and Power Power Politics: the Experience of Non-Violent Action from Gandhi to the Present, p. 372 ↩︎
  5. Vgl. KARATNYCKY/ACKERMAN: How Freedom is Won, 6-8. ↩︎
  6. Vgl. Ebd., 4; Vgl. CHENOWETH/ WILES SHAY: List of campaigns in NAVCO 1.3. ↩︎
  7. Vgl. THOREAU: Civil Disobedience, 12-13. ↩︎
  8. Vgl. SHARP: The Politics of Nonviolent Action. ↩︎
  9. Vgl. CELIKATES: Klimaprotest ist “nicht antidemokratisch”,; Vgl. MARTIN: Democracy without elections. ↩︎
  10. Vgl. OXFORD REFERENCE: Democracy. ↩︎
  11. Vgl. MOYER: The Movement Action Plan, 9-10. ↩︎
  12. Vgl. ebd., 26-32. ↩︎
  13. Vgl. ebd., 10; 32. ↩︎